Vorhof-Flimmern
Wir hatten eine gute Zeit verbracht in Marsaillan Plage und waren nun auf dem Heimweg. Es wurde zwar eine Schlechtwetter-Front erwartet, aber wir hatten noch sehr heisses, fast schwüles Wetter.
In Palavas les Flots sind wir auf einen Aire de Camping Car gefahren zum übernachten. Es ist ein wunderschönes Städtchen, rundum vom Meer umgeben und nur über eine schmale Landzunge zu erreichen. Es wird durchquert von Kanälen, ein Hauch von Venedig. Ich war früher schon öfters hier weil es so praktisch am Weg liegt.
Hier ist eine Geschichte passiert weswegen ich fast gestorben bin vor Aufregung und Sorge. Es gibt da nichts zu lachen, das passiert auch mir, und das hat nichts mit Senilität oder Ähnlichem zu tun. Jedenfalls hatte ich nur zwei Monate später gröbere Probleme mit starkem Vorhof-Flimmern, wer weiss ob das nicht auf das Erlebte zurück zu führen ist.
Bei der Anfahrt, circa 200 Meter von der Platz-Einfahrt entfernt habe ich meine Begleiterin P auf eine Boulangerie aufmerksam gemacht und meinte dass sie dann da Brot holen könnte während ich alles für’s Nachmittag-Essen einrichte. Das tut sie dann auch und macht sich mit dem Hundi auf den kurzen Weg. Ich stelle derweil Tisch und Stühle in die Sonne und mache es mir mit einem Glas Wein bequem.
Aber nach einiger Zeit werde ich etwas ungeduldig. Die paar Schritte um die Ecke dauern ja höchstens eine Viertelstunde, aber vielleicht sind viele Leute am Brot kaufen, da geht’s halt etwas länger. Also Geduld!
Mit dem Handy und noch einem Glas Wein vergeht die Zeit ja relativ schnell, aber nun werde ich immer ungeduldiger. Ich weiss ja dass das Hundi manchmal etwas lange braucht bis das Geschäft erledigt ist, aber so lange? Oder P hat vielleicht in der Nähe eine Boutik entdeckt, dann vergisst sie die Zeit total. Also mehr Geduld!
Und die Zeit vergeht, es ist schon bald eine Stunde vorbei, ich habe Hunger, und weder Brot noch Frau noch Hund in Sicht. Jetzt bin ich nicht mehr ungeduldig, jetzt bin ich beunruhigt! Was denkt sie sich eigentlich? Sie kann doch später noch zum «lädele» gehen. Oder ist etwas passiert? Sie kann ja wie ich auch nicht richtig französisch sprechen. Also jetzt: Roamingkosten hin oder her, jetzt wird telefoniert.
Die Verbindung steht, und eine aufgeregte P erklärt mir dass sie die Boulangerie nicht gefunden hat und jetzt auch den Heimweg nicht mehr findet. Sie sei schon kilometerweit gelaufen. Sie stehe immer wieder entweder am Meer oder am Kanal, und die Leute die sie nach dem Campingplatz frage weisen ihr immer wieder einen anderen Weg.
So, ich bin erleichtert, es ist ihr nichts passiert. Sie kann mir allerdings ihren Standort im Städtchen nicht sagen, es ist ja rundum Meer, und es gibt mehrere Kanäle. Ich erkläre ihr dass sie nicht nach einem Campingplatz fragen darf, von denen gibt’s zwei, sondern nach der Aire de Camping Car, das ist ein Stellplatz. Und dass sie, wenn sie am breiten Kanal steht auf der linken Seite aufwärts laufen muss und so zu unserem Platz findet. Ja, meint sie, sie will sich durchfragen, ich müsse jetzt halt noch Geduld haben, sie sei ja so weit gelaufen und es sei heiss und das Hundi und sie seien schon müde.
Beruhigt kehre ich zu Wein und Handy und Sonne zurück und übe mich in Geduld. Ich übe, und übe, und die Sorge wächst und wächst, und die Zeit verrinnt. Hoffentlich passiert den zweien nicht’s, wir sind immerhin im Süden und P ist eine attraktive Frau und das Hundy eine reinrassige Sheltydame. Die Leute da unten sind ja meistens sehr freundlich und hilfsbereit, aber freundliche Gesichter können täuschen, ich habe ja manchmal auch eins.
Ich muss Gewissheit haben, also wieder Telefon her. Die Verbindung klappt, aber am anderen Ende spricht nicht P sondern eine fremde weibliche Stimme mit mir. Höchster Alarm, Adrenalin marsch! Mir ist sofort klar: es ist etwas Schlimmes passiert, sie kann nicht mehr selber sprechen, sie ist in einer Notfall-Station! Aber gottlob nein, es ist eine Dame aus einer Hotel-Rezeption, welche mir erklärt dass sie mit dem Telefon einer Dame spreche welche bei ihr mit ihrem Hund und einem Baguette gestrandet sei, ratlos und aufgelöst, weil sie nicht wisse wo sie sich befinde und wohin sie müsse.
Totale Erleichterung bei mir, es ist ihr nicht’s passiert, eine Geröll-Lawine fällt von meinem Herzen! Ich bitte die Dame, ein Taxi kommen zu lassen und gebe ihr die Adresse an wohin die Beiden zu bringen sind. So, der Blutdruck und Puls normalisieren sich langsam, jetzt kommt’s wieder gut. Jetzt ist ein Ende der Aufregung in Sicht, nur noch ein wenig Geduld, und Wein.
Aber es wird eine lange Geduldsprobe, ich warte, und warte, und warte. Meine Unruhe steigt wieder sehr an, ich begebe mich vor den Eingang des Platzes, sitze auf dem Trottoirrand und warte auf das Taxi. Autos kommen und gehen und fahren vorbei, nur kein Taxi. Ich stelle mir nun wieder die schlimmsten Szenarien vor, von Kreislaufkollaps bei P bis zur Vergewaltigung durch den Taxifahrer ist ja alles denkbar.
Und ich bin grad im Begriff ein weiteres Mal das Telefon zu bemühen da biegt ein Polizei-Fahrzeug in die Strasse ein und hält auf den Platzeingang zu. Also doch, alles klar: Katastrophe pur!
Ich stürme auf das Fahrzeug zu, die Türen gehen auf, drei Uniformierte steigen aus, und: eine Frau mit Hund klettert aus dem Fond, selbstständig. Ich muss mich abstützen, an der Autotür und an einem Polizisten, ich falle wirklich fast um! Mein Herz stellt fast ab oder flimmert?, und durch den Nebel sehe ich dass die Frau ein Baguette unter dem Arm trägt. Ich möchte die ganze Welt umarmen, mindestens aber Frau, Hund und Baguette.
Nach einer gewissen Zeit der Erholung klärt sich auf warum P mit der Polizei gebracht wurde: Da kein Taxi zu finden war hat die Rezeptions-Dame kurzerhand die Polizei aufgeboten, und, ganz Freund und Helfer, haben sie die Rückführung übernommen. Ein Beitrag an die Kosten wird sehr bestimmt abgelehnt, man hat sich ja gut amüsiert mit und über uns.
So auf Wolken bin ich noch nie zu unserem WoMo zurück geschwebt, und so gut hat mir noch nie ein Baguette geschmeckt obwohl es inzwischen knochendürr geworden war. Glück pur!
Dann, am Abend, es war schon dunkel, ist P mit unserem Hundi Gassi gegangen. Ich bin ihr heimlich und versteckt ständig hinterher gegangen und habe sie nie aus den Augen gelassen!